Das erste Kapitel aus „Das Porträt des Teufels von St. James“

Kapitel 1: Nash

Es war der Schweißtropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Natürlich kein Fass im eigentlichen Sinne, und auch der Tropfen an sich war nichts, was ihm für gewöhnlich die Selbstbeherrschung raubte. Nein, was Nash Burnwood, den Marquess of Arden – oder, wie die Sensationsblätter ihn seit seiner Rückkehr aus Frankreich nannten, den »Teufel von St. James« –, über die Maßen verärgerte, war das umfassende Versagen des Mannes vor ihm.

Die Anzeichen waren kaum zu übersehen: das Zittern der rechten Hand, die den Stift führte; das Auf und Ab der Linken, die mit dem spitzenverzierten Taschentuch die Stirn abtupfte; die Blicke, die der blasse Mann überallhin wandte, nur nicht zu Nashs linker Gesichtshälfte. Nash, dem sein Spiegelbild geläufig war, hatte im Laufe der Monate vergessen, wie verstörend der Anblick der roten, unzureichend verheilten Narbe auf die Empfindsameren seiner Zeitgenossen wirken musste.

Doch gerade von einem der berühmtesten Maler seiner Epoche hätte Nash mehr und Besseres erwartet als dieses weibische Getue. Dieser geckenhafte Mann mit dem albernen Spitzbärtchen tupfte sich nun zum zehnten Mal die schweißbedeckte Stirn ab. Nash hatte mitgezählt. Was gab es für ihn anderes zu tun, um sich die Zeit zu vertreiben, während er in der gewünschten Pose verharrte? Seine Hand auf dem Paradesäbel seines Großvaters – ein elender Verschwender, möge er in der Hölle schwitzen – packte den Griff fester.

Die Augen des Malers quollen aus ihren Höhlen, als er der Bewegung folgte. Nash hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Künstler, dessen angeblich schockierend realistischer Malstil einen Skandal in der Beau Monde ausgelöst hatte, sich derart anstellte. Beinahe tat ihm der Mann leid. Hätte Nash dieses elende Porträt nicht so dringend gebraucht, wäre er vielleicht geduldiger gewesen. So aber sah er den verräterischen Tropfen Angstschweiß die bleiche Stirn hinabrinnen und wusste, dass auch dieser Künstler ihm nicht das geben würde, womit er ihn beauftragt hatte.

Zwei Sekunden vergingen, in denen Nash dem Maler in die angstgeweiteten Augen starrte. Der Mann ließ alle Umgangsformen fahren, wandte sich um und ergriff das Hasenpanier in genau dem Moment, in dem Nash vom Podest sprang und sich der Staffelei mit Riesensätzen näherte. Während Nash lief, schlug der Säbel gegen seinen Oberschenkel, aber er ignorierte das alberne Ding. Er hörte den Maler die Treppe herunterstolpern. Hoffentlich brach sich der Narr nicht auf der Flucht vor dem Teufel von St. James das Genick. Nash hatte auch so schon genug um die Ohren, da brauchte er nicht noch den Magistrat oder – Gott bewahre – einen schwerfälligen Konstabler in Arden House.

Der Blick auf die Skizze bestätigte seine schlimmsten Ahnungen.

Dieser Idiot hatte, wie alle anderen Maler vor ihm, einen verdammten Schönling aus Nash machen wollen. Er musste zugeben, dass die Proportionen gut getroffen waren. Seine Schultern waren breit, die Taille schmal und die Beine, soweit sichtbar, kräftig und muskulös. Es war das Gesicht, das Nash zur Verzweiflung brachte.

Es war ein attraktives Gesicht, daran bestand kein Zweifel. Das Kinn präsentierte sich männlich und markant. Die charakteristischen hohen Wangenknochen der Ardens erzählten von der berechtigten Arroganz, die wie die blauen Augen von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Gerade, dunkle Brauen und eine, wie Nash fand, stolze Nase machten aus diesem Gesicht eines, das einem Cäsar, einem Eroberer und Unterwerfer, gut angestanden hätte.

Das einzige Problem: Es war nicht sein Gesicht.

Nicht mehr.

Seine Frustration entlud sich in einem Schrei, der die Passanten auf der Straße und sogar im gegenüberliegenden Park innehalten ließ, bevor sie mit doppelter Geschwindigkeit ihres Weges gingen. Ungeachtet der verschreckten Spaziergänger spurtete er dem Versager von Maler hinterher und sah eben noch, wie die jämmerliche Kreatur seinen Grund und Boden verließ, um einer Frau in die Arme zu fallen.

Ganz jung war sie nicht mehr, das erkannte er auf den ersten Blick und sogar von den Stufen seines Hauses aus, obwohl ihr Gesicht von einer schlichten Haube verdeckt war. Es war ihre Haltung, die ihm verriet, dass sie keine verschüchterte Debütantin mehr war – aufrecht und selbstbewusst stand sie da. Unter ihrem Arm trug sie ein rechteckiges Päckchen, das sie zum Schutz vor den Unbilden des englischen Frühlingswetters in ein buntes Tuch gehüllt hatte und fest an sich presste, als der Tölpel gegen sie stolperte und sie beinahe zu Fall brachte. Eine Sekunde lang war sich Nash sicher, sie würde mit der Kehrseite voran auf dem Trottoir landen, doch es gelang ihr im letzten Augenblick, die Balance zu halten. Die Unversehrtheit ihrer Person ging allerdings zulasten des Päckchens, das gleichzeitig mit dem ungeschickten Flüchtenden in den Rinnstein fiel. Ihr kostbares Gut landete im Unrat, gleich neben dem Maler, der mit angewidertem Gesichtsausdruck den Schmutz auf seinen Hosen betrachtete. Die Frau schien wie erstarrt und unfähig, das Unglück zu begreifen, das ihr zugestoßen war.

Mit einem Seufzer beschloss Nash, ihr zu Hilfe zu eilen. Das Unglück war nicht seine Schuld, aber unbeteiligt war er an der Kette der Ereignisse auch nicht. Leichtfüßig sprang er die Stufen herunter und hörte, wie der Verursacher des Malheurs – der Dilettant, der sich Maler schimpfte, nicht er selbst – die Dame mit einer Flut an Vorwürfen überschüttete.

»… sehr wohl, wer Ihr seid, Madam. Wenn Euer Gatte sein Glück versuchen will, nur zu. Ich wünsche ihm und Euch viel Glück bei der Zähmung dieses Teufels in Menschengestalt.«

Nash grinste. Damit war er gemeint.

»Ich werde Euch die Rechnung für die Säuberung meiner Kleidung zukommen lassen. Ihr logiert immer noch in Lambeth und …«

Was auch immer der Maler hatte sagen wollen, ging in ein Quieken über, als Nash ihn am Genick packte und ihm einen Stoß versetzte. »Wage es, der Frau deine Tölpelhaftigkeit anzulasten, und ich werde dafür sorgen, dass du in der Hölle schmorst, du Wurm!« Würmer quiekten nicht, aber ihn in der Gegenwart einer Dame mit einem borstigen Nutztier zu vergleichen kam für Nash nicht in Frage.

Der Versager taumelte von dannen. Zufrieden sah Nash ihm nach.

Er bückte sich im selben Moment, in dem die erstarrte Frau zum Leben erwachte und auf die Knie sank, um ihr kostbares Paket aus der Gosse zu fischen. »Sie erlauben«, sagte Nash, zog die Frau mit der einen Hand auf die Füße und griff mit der anderen nach dem Päckchen. Das schützende Tuch hatte sich gelöst und mit Flüssigkeit vollgesogen, also ließ Nash es liegen und griff nur nach dem rechteckigen Paket. Sie hob den Kopf und gab ihm zum ersten Mal Gelegenheit, ihr Gesicht in Gänze zu sehen.

Oho!

Nicht mehr jung, so weit lag er richtig. Wenn er die Anzeichen der Erschöpfung wie beispielsweise die Schatten unter ihren Augen außer Acht ließ, dann war sie Mitte bis Ende zwanzig. Zu alt nach gängigen Maßstäben, aber Nash war noch nie jemand gewesen, der seine persönlichen Vorlieben an der rasch wechselnden Mode ausrichtete. Ganz ehrlich: Wer wollte schon eine verschüchterte, stammelnde Jungfrau, wenn er stattdessen den Anblick einer Frau wie dieser genießen konnte? Sie war eine Augenweide, wenn auch nicht schön im herkömmlichen Sinne. Dazu war der Mund, den sie bedauerlicherweise zu einer missbilligenden Linie zusammenpresste, zu groß und ihre Nase zu gerade. Ihre Brauen waren dunkle Bögen, die Augen mandelförmig und von einem leuchtenden Braun, das ihn jetzt und hier an den stechenden Blick eines Falken erinnerte. Ihr Haar wurde von der Haube verdeckt, aber wenn Nash eine Wette abschließen müsste, hätte er auf Rotblond gesetzt. Sie hatte die Kühle einer blonden englischen Rose, doch darunter meinte er die Leidenschaft einer rothaarigen Katze zu erkennen. Wie viel Charme bedurfte es, um die Strenge aus ihrem aparten Gesicht zu vertreiben und durch Leidenschaft zu ersetzen?

»Danke«, unterbrach die Frau seine Überlegungen, »für Ihre … Hilfe.«

Oh nein, große Anstrengung würde es Nash nicht kosten, wenn sie schon bei ihren ersten an ihn gerichteten Worten ins Holpern geriet. Doch sein Interesse erlosch so plötzlich, wie es entflammt war.

»Wenn Sie jetzt so freundlich wären, mir mein Eigentum zurückzugeben, bevor es noch mehr Schaden nimmt.« Ihre Worte kamen wie Almosen aus ihrem Mund, hart und kalt; ihr Tonfall legte nahe, dass dies ein Befehl war und keine Frage.

Wann hatte ihm zuletzt eine Frau die Sprache verschlagen?

Womöglich würde es doch nicht ganz einfach werden, ihren Widerstand zum Erlahmen zu bringen. Nash schaute auf seine Hände, die immer noch das rechteckige Paket hielten. Die Frau streckte ihre behandschuhten Finger aus. Instinktiv reichte er ihr das Paket und sah ihr dabei zu, wie sie die schlanken Finger um das mittlerweile aufgeweichte Papier schloss. »Noch einmal meinen Dank, Sir.« Ein kühles Nicken, dann wandte sie ihm den Rücken zu und musterte das Haus, das er soeben verlassen hatte. Er beobachtete, wie sich ihre schmalen Schultern im sauberen, aber schon lange nicht mehr modischen Mantel strafften, als sammelte sie all ihren Mut. Im nächsten Moment erstarrte sie.

Nash verstand.

Die Frau mit den Falkenaugen hatte begriffen, dass er der Mann war, dem das Haus gehörte. Sie war auf dem Weg zu ihm.

Nash fühlte, wie sich seine Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen. Die Bewegung seiner Gesichtsmuskulatur war unangenehm; das steife Narbengewebe weigerte sich, die Mimik mitzutragen, aber er konnte nicht aufhören. Ein Kindermädchen schob sich mitsamt seinem Schützling zwischen ihn und seine Beute. Ein verstohlener Blick in sein Gesicht genügte, um die Kinderfrau erbleichen zu lassen. Die Miene des Jungen verzerrte sich zu einer verängstigen Grimasse und er fing an zu heulen, während das Kindermädchen seinen Schützling auf die andere Straßenseite zerrte und die Sicht auf die Frau wieder freigab.

Ihre Schultern sackten nach vorne und sie tat einen unentschlossenen Schritt auf den Eingang von Arden House zu. Nash trat geschmeidig neben sie und bot ihr seinen Arm. »Sie sind auf dem Weg zu mir, nehme ich an.« Obwohl die Haube mit der breiten Krempe den größten Teil ihres Gesichts verbarg, meinte Nash zu sehen, wie sie eine Spur bleicher wurde. Eine leise Enttäuschung machte sich in seiner Brust breit, als er ihre Reaktion auf sein verunstaltetes Gesicht wahrnahm. Vermutlich ist sie doch keine Rothaarige. Zu wenig Feuer und zu leicht ins Bockshorn zu jagen.

Doch schon im nächsten Augenblick wurde er eines Besseren belehrt, als sie die Schultern straffte und das Kinn hob. Ein vielversprechender Funke leuchtete in ihrem Blick, als sie ihn für einen köstlichen, allzu flüchtigen Moment ansah.

Wie er es genießen würde, ihre Wangen mit der hitzigen Röte der Leidenschaft zu überziehen! Die braunen Augen unter den dunklen Brauen bildeten einen pikanten Kontrast zu ihrem hellen Teint und befeuerten seine Fantasie. »Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Lord Burnwood.« Manche Weibsbilder waren entzückt, wenn er Ihnen freiheraus das intimere »Arden« anbot, aber sie gehörte eher zu der Sorte Frau, die erst umworben werden wollte. Sobald sie jedoch auftaute, würde es kein Halten mehr geben …

Immer noch weigerte sie sich, ihn anzusehen. »My Lord.« Sie zögerte und presste das kostbare Päckchen fester an ihren Busen, der unter dem grauen Mantel mehr als nur zu erahnen war und dessen Aufruhr Nash dank seiner überlegenen Größe nicht entging. Er verneigte sich. Nicht so tief, dass es angesichts ihres niedrigen Standes wie Spott gewirkt hätte, aber tief genug, um sie seiner Wertschätzung zu versichern. Endlich akzeptierte sie seine höfliche Aufforderung und legte ihren Arm auf seinen.

Er gestattete sich einen winzigen Augenblick der Vorfreude, als er ihre Hand leicht wie eine Feder auf seiner spürte, und führte sie ins Haus.

Ende Kapitel 1

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Bis bald,
Emmi alias Jenny und die Bestien