Historischer Liebesroman

Eine arme Waise.
Ein unerwartetes Vermögen.
Kann sie ihre bescheidenen Anfänge überwinden und wahre Liebe finden?
Regency London. Lavinia Talridge ist untröstlich. Nach dem vorzeitigen Tod ihrer Mutter ist die junge Lavinia mittellos, ohne Geld und ohne Familie.
Bis sie in einer unerwarteten Wendung des Schicksals erfährt, dass sie wohlhabend ist. Noch bevor sie wirklich glauben kann, dass sie in das neue privilegierte Leben gehört, findet sie sich in einer arrangierten Ehe mit einem gutaussehenden Gentleman wieder und hat eine Chance auf die Liebe.
Doch der Sohn des Viscounts verhält sich ihr gegenüber kalt und Lavinia muss annehmen, dass der Grund in ihrer niedrigen Geburt liegt. Kann die junge Frau, die sich vor einer kalten Ehe fürchtet, ein Leben voller Liebe finden?
Romantisch – unerwartet – mitreißend. Eine Geschichte voller Abenteuer, Verlockung und der unaufhaltbaren Macht der Liebe vor dem glitzernden Hintergrund der Regency Ära in England.
Aus dem Englischen “A Bride for the Viscount’s Cold Son” von Audrey Ashwood, in Zusammenarbeit mit Jenny Foster / Emmi West.
Erhältlich auf Amazon. Kindle & Taschenbuch
Leserprobe:
Pater Harding lud Lavinia ein, für einige Tage im Pfarrhaus zu bleiben, doch sie lehnte sein Angebot freundlich ab. Mit einem Korb voller Essen aus der Küche seiner Frau sowie ein paar Pennys in ihrer Tasche machte sie sich auf den Weg.
Das Dorf war immer ihr Zuhause gewesen und als sie durch die schmalen Straßen von Cotes Cross lief, bemerkte sie, dass sie jeden Baum, jedes Gebäude, jedes Haus kannte. Die Gebäude waren alt, gebaut aus grauen Steinen und Holz. Sie selbst fühlte sich heute alt, älter als sie tatsächlich war. Sie war außerdem furchtbar einsam.
Lavinia hätte die Güte des Vikars und seiner Frau, des Dachdeckers oder eines der anderen freundliche Dorfbewohner annehmen können, die sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigten – aber wie konnte sie auch nur einem dieser Menschen zur Last fallen, die kaum genug für sich selbst hatten? Sie benötigte Zeit, um die Gedanken zu sortieren, die ihr durch den Kopf schwirrten. Ihre Brust schmerzte von der Trauer, ihr Gesicht war nass von ihren Tränen und ihre Hände und Füße taub von der Eiseskälte. Sie sah die mitfühlenden Blicke der Menschen, die sie auf der Straße passierte, während sie zurück zu ihrer Hütte ging. Jeder in Cotes Cross kannte den Nächsten und es gab keine Geheimnisse in dem kleinen Dorf. Lavinia konnte das Mitleid spüren, das von ihren gut meinenden Gesichtern ausging. Womöglich musste sie sich schon bald auf dieses Mitleid berufen, um zu überleben, doch heute hatte sie das dringende Bedürfnis, zu Hause zu sein, an dem einen Ort, der sie an ihre liebste Mutter erinnerte.
Als sie die Holztür zur Hütte öffnete, hörte sie das vertraute Knarzen der Türangeln. Vor nicht allzu langer Zeit war es ein willkommenes Geräusch gewesen, das ihrer Mutter angekündigt hatte, wenn Nachbarn etwas zum Nähen brachten. Für einen kurzen Augenblick zauberte es ein Lächeln auf ihr Gesicht, als sie an glücklichere Zeiten erinnert wurde. Dann schloss sie die Tür hinter sich und stand alleine im Zimmer. Die Hütte war vollkommen ausgekühlt und die dicken Wände trugen den Frost des Winters in sich. Sie setzte den Korb auf den grob gehauenen Tisch und blickte zu der Stelle, an der ihre Mutter gelegen war.
Die Pritsche war verschwunden, zusammen mit allen Anzeichen des Schicksalsschlags. Die Feuerstelle war gekehrt und ein frischer Stapel Feuerholz lag daneben. Sie wusste weder, wer für die Geste verantwortlich war, wer die Beerdigung arrangiert hatte noch wer für den Sarg aufgekommen war, aber sie war dankbar über die Anteilnahme und Wärme ihrer Mitmenschen. In diesem winzigen Dorf in Yorkshire zeigten sich die Freunde ihrer Mutter selbst in ihrem Tod noch großzügig und dies war ein Moment, der noch lange in Lavinia nachhallen würde.
Als sie neben der Feuerstelle saß, bemerkte sie das Nähkästchen ihrer Mutter, das auf dem Tisch neben einem sorgsam gefalteter Stapel Flickarbeiten stand. Lavinia wischte sich die Tränen aus den Augen und fragte sich, ob sie wohl mit Näh- und Flickarbeit Geld verdienen könnte. Sie war stark für ihr Alter, trotz ihres schmalen Körperbaus. Sie konnte arbeiten; sie konnte verschiedene Aufgaben übernehmen, um Geld zu verdienen.
Würde sie jemand für ihr Nähen und Flicken bezahlen? Sie ging durch den kleinen Raum, hob ein Hemd in die Höhe und sah es an. Die winzigen, geraden Stiche waren kaum sichtbar, ein Beweis für das Können ihrer Mutter im Umgang mit der Nadel. Sie dachte an das, was der Vikar über das Talent ihrer Mutter gesagt hatte und fragte sich, ob sie es ihr wohl gleichtun könnte.
Ihre Nähkünste entwickelten sich gut, das hatte ihre Mutter immer gesagt. Sie hatte Lavinia erlaubt, bei der Anfertigung von Matratzendrillich und Kopfkissenbezügen zu helfen, mehr jedoch nicht. Ihre Mutter hatte Träume für Lavinia gehabt – Träume, von denen sie überzeugt war, dass sie eines Tages wahr werden würden. Ihre Mutter hatte dafür gebetet, dass Lavinia keine einfache Näherin werden würde; sie sollte nicht im Dorf nach Arbeit suchen müssen, um Essen zu kaufen – sie würde heiraten, so hatte sie oft mit fröhlicher Stimme wiederholt, vielleicht einen Handelsmann oder einen Großbauern oder einen angesehenen Reverend.
Wie Lavinia sich wünschte, sie könnte die Hoffnung ihrer Mutter teilen … sie faltete das Hemd zusammen und legte es zurück auf den Stapel. Was konnte ein Mädchen ihres Alters in der Welt verrichten? Sie und ihre Mutter hatten einfach gelebt. Die Hütte mit ihrer kargen Einrichtung war alles, was Lavinia jemals gekannt hatte, aber sie wusste, dass andere nicht auf die gleiche Weise lebten. Der Vikar und seine Frau hatten beispielsweise ein schönes Haus; in der Stube hatten zwei gepolsterte Sessel und ein paar polierte Kerzenleuchter gestanden. Vielleicht konnte sie Arbeit in der Küche eines großen Anwesens finden?
Sie dachte darüber nach, wie es wäre, in einem Herrenhaus zu arbeiten, den ganzen Tag zu putzen und zu polieren. Es würde harte Arbeit sein, aber sie hätte immer ausreichend zu essen und ein eigenes Bett. Doch wollte sie wirklich den einzigen Ort verlassen, den sie jemals gekannt hatte? Diese Hütte mit ihren zwei winzigen Räumen war schon immer ihr Zuhause gewesen. Ihre Nachbarn waren neben ihrer Mutter die einzigen Menschen, die sie kannte. Die Kinder waren ihre Freunde und die Frauen wie Tanten für sie. Sie hatte den Vikar nicht angelogen, als er sich nach ihrer Familie erkundigte, aber nun spürte sie einen schuldbewussten Stich. Sie hatte eine Familie, aber sie waren nicht blutsverwandt mit ihr – es waren die Menschen von Cotes Cross. Falls sie das Dorf verließ, wäre sie ganz alleine und niemand würde sie kennen. Lavinia war immer ein ruhiges, zurückhaltendes Kind gewesen und die Vorstellung, das Dorf zu verlassen, war ebenso beängstigend wie der Gedanke, auf den Straßen zu hungern.
Ihr traten Tränen in die Augen, während sie ins Feuer starrte. Der Vikar hatte ihr geraten, Vertrauen zu haben. Sie hatte Vertrauen, aber sie wusste nicht, ob es ausreichen würde, um sie zu retten.
Ein lautes Klopfen an der Tür erschreckte Lavinia so sehr, dass sie aufsprang. Würde der Mietsherr schon jetzt nach der Miete verlangen? Ich hätte im Haus des Vikars bleiben sollen, dachte sie, während sie in Panik erstarrt unbeweglich sitzenblieb. Sie könnte vorgeben, nicht daheim zu sein, aber der Rauch, der aus dem Schornstein stieg, würde sie verraten. Vielleicht könnte sie ihm ihr gesamtes Geld geben und versprechen, den Rest in ein oder zwei Wochen zu bezahlen?
Es klopfte erneut, dieses Mal noch lauter.
Zitternd vor Angst stand Lavinia auf, öffnete das kleine, hölzerne Kästchen auf dem Kaminsims und nahm die wenigen Münzen heraus, um sie zu zählen.
Es reichte nicht.
Die Münzen fest in der Hand ging sie zur Tür und betete, dass Gott ihr Gnade schenken möge. Lavinia öffnete die Tür und trat mit einem überraschten Atemzug sofort wieder einen Schritt zurück.
Ein Mann stand vor der Tür. Er war groß und trug einen schwarzen Mantel. Es war nicht der Mietsherr. Diesen Mann hatte sie noch nie zuvor gesehen.
“Guten Tag, ist dies das Haus von Miss Lavinia Dean?”, fragte er und lüftete den Hut.
Lavinia war noch nie zuvor ‘Miss’ genannt worden und noch nie zuvor hatte ein Mann für sie seinen Hut gezogen. Sie wusste nicht, wie sie sein Verhalten deuten sollte. Sie sah an seinen breiten Schultern vorbei und erblickte etwas noch Erstaunlicheres. Eine Kutsche stand auf der Straße, nur wenige Schritte hinter ihm. Noch nie hatte sie solch eine Kutsche aus der Nähe gesehen! Sie wurde von einem Gespann aus vier hellen Pferden gezogen und ein Wappen schmückte die Tür. Die Kutsche sah aus wie die von Lords und Ladys, wenn sie durch die Stadt fuhren.
Lavinia wusste nicht, was der Mann und die Kutsche bei ihrer Hütte wollten, aber sie ermahnte sich, trotz ihrer Neugier nicht ihre Manieren zu vergessen. “Ich bin Lavinia. Ich kann Ihnen nicht viel bieten, außer einem Platz an meinem Feuer.”
“Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Miss. Ich bin lediglich der Kutscher. Meine Herrin wünscht mit Ihnen zu sprechen.”
Lavinia sah gebannt zu, wie der Kutscher zurück zur Kutsche ging, die Tür öffnete und sich dann aufrecht daneben stellte, als sich eine elegante Frau zeigte. Wie Lavinia war sie klein und zierlich, aber da endete die Ähnlichkeit auch schon. Die Frau, die aus der Kutsche stieg, war wohlhabend gekleidet, in einen mit Pelz gefütterten Mantel und passende Haube. Sie war eine ältere, aber noch immer schöne Frau, die sie mit erhobenem Kopf anlächelte, während sie (in doch überraschend flottem Tempo) auf Lavinia zustolzierte.
“Lavinia? Kann es wirklich sein?”
Lavinia erkannte die Frau nicht, die nun ihre Hände nach ihr ausstreckte. Mit einem Knicks und verunsicherter Stimme antwortete sie, “Gnädige Frau, wollen Sie nicht hereinkommen?”
“Danke, aber ich werde nicht lange bleiben … und du übrigens auch nicht”, sagte die Frau, während sie einfach an Lavinia vorbeischritt und zum Feuer in der Hütte eilte.
Vor dem Hintergrund der Gipswände, des dreckigen Bodens und der groben Holzmöbel, wirkte Lavinias Gast, mit dunkelblauem Mantel und Haube, in der Hütte so fehl am Platze, wie die Kutsche, die davorstand. Lavinia war von den Ereignissen so überrascht, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte und einfach reglos stehenblieb. Wer war diese Frau und warum war sie hier?
Die Frau stand neben dem Feuer und rieb ihre Hände über den Flammen aneinander. “Es gibt nichts Besseres, als ein gutes Feuer an einem Wintertag, denkst du nicht auch?”
“Ja, gnädige Frau. Ich kann eine Tasse Tee machen. Ich habe nicht viel, aber etwas Brot.”
“Das wird nicht nötig sein”, sagte die Frau und wandte sich Lavinia zu. “Komm, setz dich neben mich – wir haben viel zu besprechen.”
“Haben wir das?”, fragte Lavinia, setzte sich aber gehorsam auf einen der tiefen Holzstühle, um den guten Stuhl ihrem Gast zu überlassen.
“Allerdings, mein Mädchen. Lass mich dich ansehen.” Die Frau lehnte sich ganz nahe zu Lavinia und berührte Lavinias Kinn und drehte das Gesicht sanft von einer Seite zur anderen, während sie sie aufmerksam ansah.
Lavinia war sich nicht sicher, warum sie so eingehend betrachtet wurde und sie erwartete beinahe, dass die Frau sie bitten würde, den Mund zu öffnen, um ihre Zähne zu betrachten, wie man es bei einem Pferd auf dem Markt tat.
“Du hast meinen zierlichen Bau und die feinen Züge. Diese Wangenknochen hast du von meinem Sohn. Lass mich einmal sehen … deine Haare sind rabenschwarz und du hast dunkle Augen – die musst du von deiner Mutter haben … sie war eine Schönheit”, sagte die Frau, als sie nach einer von Lavinias Händen griff. “Deine Haut ist makellos hell und weich. Ich sehe, deine Mutter hat dafür gesorgt, dass du nicht viel in der Sonne warst – ausgezeichnet.”
Lavinia wollte nicht unhöflich erscheinen, doch sie war verwirrt. “Gnädige Frau, ich möchte nicht unfreundlich sein, aber ich weiß nicht, mit wem ich spreche.”
“Meine arme, liebe Lavinia, du weißt nicht, wer ich bin? Ich bin deine Großmutter. Ich bin Mrs. Henrietta Talridge, aber du kannst mich nennen, wie du willst.”
Großmutter? Lavinia formte das Wort noch einmal mit den Lippen nach, unfähig zu sprechen. Sie schluckte schwer und fand ihre Stimme wieder, “Ich habe aber keine Großmutter. Ich habe keine Familie.”
“Du hast Familie, Kind. Du hast mich. Dein Vater, Gott sei seiner Seele gnädig, war mein Sohn, mein einziger Sohn. Du bist eine Talridge, meine Liebe.”
“Nein, das muss ein Missverständnis sein … mein Name ist Dean.”
“Der Name deiner Mutter war Dean. Wenn du möchtest, kannst du ihn behalten, aber für mich bist du eine Talridge. Du bist alles, was mir von meinem lieben Sohn geblieben ist; du und ich, wir sind Familie.”
Lavinia war überwältigt von diesen Neuigkeiten und sie erhob sich langsam, um ihre Gedanken zu sammeln und zu versuchen, dem Gehörten Sinn zu geben. Sie lief in dem beengten Raum der Hütte hin und her.
Ein Seufzen entrang sich ihr. Das war einfach nicht möglich.
“Vergebt mir meine Unhöflichkeit, aber dies kann nicht die Wahrheit sein. Meine Mutter erzählte mir, mein Vater sei tot und ich hätte keinen Verwandten außer ihr”, sagte Lavinia mit brüchiger Stimme, die ihre aufgewühlten Gefühle nicht verstecken konnte.
“Meine Liebe, warum solltest du mir glauben? Hier bin ich, eine alte Frau, die du nicht kennst, die dich in dieser schrecklichen Zeit der Trauer einfach überfällt. Du hast so viel durchgemacht, nun setz dich erst einmal und ich werde dir in Ruhe die Wahrheit erzählen.”
Lavinia setzte sich wieder auf den wackeligen Holzstuhl. Sie wusste nicht, was die Wahrheit sein konnte, aber wenn es auch nur die kleinste Möglichkeit gab, dass sie nicht alleine auf der Welt war, dann wollte sie zuhören.
“Wie alt bist du?”
“Ich bin noch nicht vierzehn.”
“Du bist schon fast eine junge Dame … ist es wirklich schon so lange her? Lass mich sehen, wo soll ich anfangen? Ich weiß … ich fange bei meinem Sohn an, deinem Vater. Wie ich schon sagte, er war mein einziges Kind, ein gutaussehender Mann und er genoss es, in einem guten Buch zu schmökern und auf die Jagd zu gehen. Deine Mutter war die Tochter des Ehepaares, das die Schafe und Rinder auf meinem Anwesen hütete. Sie war eine Schönheit, aber das weißt du ja, nicht wahr, mein Kind? Mein Sohn verliebte sich in sie, aber sie verheimlichten ihre Liebe … ich wusste nicht davon. Ja, sie versteckten ihre Liebe! Ich nehme an, er dachte, ich sei zu altmodisch, um eine Frau ohne Verbindungen oder guten familiären Hintergrund als seine Ehefrau zu akzeptieren…” sie nickte gedankenverloren mit dem Kopf, “und zu meiner Schande muss ich gestehen, er hatte recht. Ich wollte meinen Sohn mit einer Frau sehen, die in jeder Weise eine Lady ist. Ich wollte, dass er eine Frau findet, die einen Haushalt mit Angestellten leiten, Gäste bewirten und ein Musikinstrument spielen kann. Ach ja … ich war von meinen eigenen Ambitionen für meinen Sohn geblendet und konnte … wollte einfach nicht sehen, dass er nicht das geringste Interesse an den geeigneten jungen Damen zeigte, deren Bekanntschaft er während der Londoner Saison machte.”
“Sie sagten, dass die Eltern meiner Mutter auf Ihrem Anwesen lebten … leben sie dort noch?”, wollte Lavinia wissen.
Mrs. Talridge schüttelte langsam den Kopf, “Nein, Kind, es tut mir leid zu sagen, dass sie bereits vor langer Zeit von uns gingen. Es waren gute Leute, hart arbeitend und nützlich. Du wärst stolz gewesen, sie zu kennen, denn sie haben deine Mutter auf gleiche Manier großgezogen, fleißig und hart zu arbeiten.”
“Und … falls Sie mir erlauben zu fragen … hat ihr Sohn meine Mutter geliebt?” Lavinia blickte sie mit großen Augen an.
“Ja, mein Sohn, dein Vater, hat deine Mutter geliebt”, kam sofort zurück. “Nach seiner Rückkehr aus London schmiedete er geheime Pläne, sie zu heiraten und sie entschieden sich, am Ende des Sommers zu heiraten, aber, Gott sei seiner Seele gnädig, er wurde beim Übergang eines Flusses getötet, noch bevor die Vermählung stattfand. Er ritt sein Lieblingspferd, es war ein riesiger Brauner, wenn ich mich richtig erinnere. Mein armer Sohn fiel aus dem Sattel und brach sich das Genick … er starb auf der Stelle”, sagte die alte Frau, bevor sie in das seidene Retikül griff, das von ihrem Handgelenk baumelte und ein besticktes Taschentuch herauszog und sich damit sanft die Augen tupfte.
“Er hat nicht gelitten?”
Sie schüttelte den Kopf. “Nein, meine Liebe, das hat er nicht. Ich wurde von Trauer überwältigt. Mein Mann, dein Großvater, war im Jahr zuvor verstorben … und meinen Sohn zu verlieren, war mehr als ich ertragen konnte. Ich zog mich in eine Welt aus Trauer und Verzweiflung zurück, ich wollte nicht mehr essen oder mein Schlafzimmer am Morgen verlassen. Viele Monate lang war ich untröstlich. Bis meine Zofe mir die Nachricht brachte, dass ein Kind auf dem Anwesen unehelich zur Welt gekommen war, hatte ich an keiner Sache, an keinem Menschen Interesse. Zuerst war ich schockiert! Ein Skandal! Wer würde so unverhohlen seine Sünde zur Schau stellen, indem er ein Kind außerhalb des Bundes der Ehe zur Welt brachte? Als ich entdeckte, dass es deine Mutter war … ging ich noch am selben Tag zu ihr. Bei meinem Besuch erfuhr ich, dass mein Sohn in sie verliebt gewesen war und dass sie hatten heiraten wollen. Ich konnte es nicht glauben, aber ihre Eltern bestanden darauf, dass sie die Wahrheit sprach … außerdem hatten sie mich noch nie belogen, also gab es keinen Grund an ihnen zu zweifeln. Während ich ihrer Erzählung lauschte, so absurd sie mir auch zunächst erschien, erinnerte ich mich an Details von meinem Sohn, die nahelegten, dass sie die Wahrheit sprachen …” Sie sah Lavinia eindringlich in die Augen. “Als ich dich in den Armen hielt, wusste ich, dass du meine Enkelin bist. Ich habe es tief im Herzen gespürt.”
“Warum habe ich dich nie getroffen?”, fragte Lavinia neugierig.
“Ich möchte nicht schlecht von den Toten sprechen, aber die Schuld liegt gleichermaßen bei mir und deiner Mutter. Ich wollte an deiner Erziehung teilhaben, dennoch, ich konnte dich natürlich nicht anerkennen. Du wurdest unehelich geboren … aber ich hatte Pläne für dich. Sobald du ein gewisses Alter erreicht hattest, wollte ich dich zur Schule schicken, um dir eine Ausbildung zu geben … aber deine Mutter wünschte nicht, dass ich mich einmische. Du wärst ihre Tochter und das einzige Verbindungsstück zu meinem Sohn, das ihr noch geblieben sei, sagte sie immer wieder. Oh, wir kämpften bitterlich um dich! Als sie sich weigerte, meine Hilfe anzunehmen, drohte ich ihr, dich wegzunehmen. Deine Mutter ist kurz danach mit dir weggegangen. Ich habe sie erst viele, viele Monate später wiedergesehen, als sie bereits mit dir alleine lebte und sich ihren Platz in der Welt erkämpfte. Sie stimmte zu, Geld für deine Kleidung und dein Essen anzunehmen, um dich zu schützen, aber darüber hinaus wollte sie keinen Penny mehr. Ich versprach, ihre Wünsche zu respektieren. Sie würde dich alleine aufziehen, aber sobald du älter wärst und deine eigenen Entscheidungen treffen könntest, würde ich nach dir schicken.”
“Ich wurde unehelich geboren? Meine Mutter und mein Vater waren nicht verheiratet? Das ist nicht wahr, das kann nicht sein … sie hat mir gesagt, dass sie verheiratet waren und mein Vater starb, als ich noch ein Baby war”, flüsterte Lavinia.
“Wir werden es keinem erzählen … niemand muss es wissen. Sie wollten heiraten, hatten die Pläne schon gemacht. Er hatte die feste Absicht sie zu heiraten, es war sein Wunsch. Ich habe vor langer Zeit entschieden, dass ich dich, wenn du älter wärst, anerkennen und meine Enkelin nennen würde. Ich hätte es schon längst tun sollen … aber mein Stolz, mein schrecklicher Stolz, stand mir im Weg.”
Lavinia griff nach dem Schürhaken und fachte die glühenden Kohlen des sterbenden Feuers wieder an. Noch am Morgen hatte sie gewusst, wer sie war: Lavinia Dean, die Tochter einer verwitweten Näherin. Jetzt war sie plötzlich Lavinia Dean, die Enkelin einer reichen Frau, die ihr gegenüber am Feuer saß. Die Schande ihrer unehelichen Geburt brach mit ebensolcher Heftigkeit über sie herein wie die Trauer, die sie beim Tod ihrer Mutter gefühlt hatte.
Sie war ein Niemand und ein Kind der Sünde.
“Lass das Feuer erlöschen. Wir haben eine lange Reise vor uns, um zum Abendessen zu Hause zu sein”, sagte Mrs. Talridge mit entschlossener Stimme, als sie sich erhob.
“Das ist mein Zuhause”, antwortete Lavinia.
“Nicht mehr. Du bist meine Enkelin und du kommst mit mir.”
“Aber … aber … ich will Cotes Cross nicht verlassen”, sagte Lavinia mit aufsteigender Panik.
“Du kannst jederzeit zurückkehren, mein liebes Kind. Komm jetzt, trödele nicht herum, such deine Sachen zusammen”, drängte ihre Großmutter.
Lavinia wusste, sollte sie mit ihrer Großmutter mitgehen, würde sie das einzige Zuhause verlieren, das sie je gekannt hatte. Die letzte Verbindung zu ihrer Mutter würde zerschnitten werden, ginge sie durch diese Tür. Doch so sehr es sie auch schmerzte, diese kleine Hütte zu verlassen, wusste sie auch, dass sie keine Wahl hatte. Sie fing an, ihre Habseligkeiten in eine einfache Tasche zu packen. Bevor sie sich von der Hütte verabschiedete, nahm sie auch das hölzerne Kästchen vom Kaminsims, eine Porzellandose vom Nachttisch ihrer Mutter, und das Nähkästchen.
Sie spürte den Schmerz bis in ihre Knochen, als sie die Tür zum letzten Mal hinter sich schloss. Sie wollte ihre Mutter nicht vergessen, noch die Jahre, die sie in diesem kleinen Heim verbracht hatte und sie schwor sich, dass sie niemals die glückliche Erinnerung an ihre Mutter verlieren würde.
Mit angsterfülltem Herzen sang Lavinia einen Vers von der Lieblingshymne ihrer Mutter, als sie die Hütte für immer hinter sich ließ.
…
Ende der Leseprobe.
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