Historischer Liebesroman (Regency Novella)

Miss Anna Bradley ist in Schande geraten und nun bleibt ihr nur noch ein Ausweg: Sie muss den hartherzigen Duke of Westlake zum Mann nehmen, um ihren Ruf wieder reinzuwaschen. Denn neben dem Kind, dem sie ein Heim zu geben hofft, hat sie ein weiteres Geheimnis, das ihrer Reputation nicht zuträglich ist.
Lord Alexander Cavendish ist der einzige Sohn des Dukes – und wenn es nach seinem Vater geht, wird er bald einen kleinen Bruder bekommen, der seine Position als Erbe des Titels und der Ländereien einnimmt. Denn Vater und Sohn hassen einander aus Gründen, die tief in der Vergangenheit liegen.
Doch allen sorgfältig geschmiedeten Plänen zum Trotz, kommen Anna ihre Gefühle in die Quere, die sie widerwillig für den Sohn ihres Zukünftigen entwickelt. Angewidert vom gefühllosen Duke und gebunden an ein Versprechen, kann es für sie nur eine Zukunft an der Seite des alten Mannes geben. Doch dann reckt das düstere Familiengeheimnis sein hässliches Haupt und Dinge kommen ans Tageslicht, die besser verborgen geblieben wären. Anna muss sich entscheiden, ob sie einen Weg geht, der Gehorsam von ihr verlangt oder ob sie den der Freiheit wählt…
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Leseprobe:
Als die Kutsche nach drei endlos erscheinenden Stunden endlich hielt, wünschte sich Anna Bradley nichts sehnlicher, als sich weiterhin in der muffigen Enge des prunkvollen Gefährts verbergen zu können. Selbst die schlechte Polsterung hätte sie mit einem seligen Lächeln ertragen, wenn sie dafür nur einer Zukunft an der Seite des Duke of Westlake entkäme.
Respekt, hatte sie während der langen Fahrt auf dem Weg in ihr neues Zuhause gedacht, ich kann ihm zumindest Respekt entgegenbringen. Vielleicht würde daraus sogar Liebe werden. Angeblich wuchs die Zuneigung ja im Laufe der Zeit zwischen Menschen, die einander so nah waren, wie sie und der Duke es bald sein würden. Außerdem konnte ein Mann, der willens war, sie zur Frau zu nehmen, kein schlechter Mensch sein.
Nervös fuhr sie mit der Hand über den dünnen braunen Stoff ihres Mantels. Er war neu, wie auch der Rest ihrer bescheidenen Garderobe, aber sie hatte bereits beim Anblick des livrierten Kutschers geahnt, dass sie mit ihren neuen Kleidern bei ihrem zukünftigen Gemahl keinen guten Eindruck hinterlassen würde. Die Kleidung des Mannes kostete sicher so viel, wie ihre Tante im ganzen Jahr nicht für den Haushalt aufwandte. Onkel George hatte darauf bestanden, dass die Dorfschneiderin sie nicht nur mit zwei Kleidern nach der neuesten Mode ausstattete, sondern hatte ihr auch genügend Geld für ein wenig weiblichen Zierrat, wie er es kopfschüttelnd nannte, zugestanden. Trotzdem ließ das ihr zugestandene bescheidene Budget den Mantel neben der prachtvollen Livree dürftig erscheinen. Der Gedanke an ihren lieben, wenn auch ein wenig weltfremden Onkel zauberte für einen kurzen Augenblick ein dankbares Lächeln auf ihre Lippen. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte er sich ihrer angenommen und sie als sein Mündel erst auf eine Schule geschickt und anschließend in sein Heim geholt.
Anna hatte schnell gemerkt, dass ihr Onkel sie bei aller zerstreuten Zuneigung, die er für sie aufbrachte, als eine Belastung empfand. Er, der tagein, tagaus über seinen Büchern hockte und lieber an seinen Predigten feilte, als sich um die Bedürfnisse eines jungen Mädchens zu kümmern, hatte sie unter die Obhut seiner Frau gestellt. Und Tante Victoria hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als das junge, flatterhafte Ding, als das sie Anna mit exakt bemessener Missbilligung bezeichnete, an den erstbesten Mann weiterzureichen, der eine Gemahlin suchte. Sie hatte die Verbindung hinter dem Rücken ihres Mannes arrangiert und sowohl ihren Gemahl als auch dessen Nichte vor vollendete Tatsachen gestellt.
Natürlich hatte Tante Victoria es nicht so unverblümt ausgedrückt, wie Anna es nur in Gedanken offen zu sagen wagte. »Er ist die beste Partie, die ein Mädchen in deiner Lage sich wünschen kann. Es sollte dir eine Ehre sein, dass er dich zu einer ehrbaren Frau machen möchte. Es wird dir an nichts mangeln, wenn du erst einmal Duchess bist und deinen Sohn in den Armen wiegst.« Für Tante Victoria war die Anspielung auf den Erben, den der Duke sich wünschte, nahezu unerhört gewagt gewesen. Vielleicht hatte sie geglaubt, wenn sie an Annas niedere Instinkte appellierte, jeden Widerstand gegen die arrangierte Ehe im Keim zu ersticken.
Was Anna dazu bewogen hatte, einer Ehe zuzustimmen, war etwas anderes gewesen. Nicht die Aussicht auf ein Leben im Luxus mit Bediensteten, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen, oder die Tatsache, dass der Duke trotz des beträchtlichen Altersunterschieds wie ein starker und auf gewisse Weise auch gut aussehender Mann erschien. Es waren die Tränen in den Augen ihres Onkels gewesen, als er seine Nichte in guten Händen wusste, die sie hatten nachgeben lassen. Obwohl Tante Victoria Annas leibliche Verwandte war, hatte Onkel George ihr mehr Güte entgegengebracht als die Schwester ihrer Mutter.
Und heute war es soweit. Der Anblick ihrer behandschuhten Hände, die nervös mit den schlichten Knöpfen des Mantels spielten, brachte sie zur Besinnung. Wollte sie nicht nur Respekt für ihn empfinden, sondern auch, dass ihr zukünftiger Gatte ihr eine gewisse Hochachtung entgegenbrachte, musste sie sich entsprechend benehmen. Sicher erwartete ein Mann wie er kein ängstlich zitterndes Mädchen an seiner Seite, sondern eine Frau, die seinen Namen mit Anstand und Würde präsentierte. Sie straffte die Schultern, als die Räder zum Stillstand kamen, und wartete geduldig, bis der Diener den Verschlag öffnete.
Ein leiser Anflug von Enttäuschung machte sich in ihr breit, als sie sah, dass der Duke seine Braut nicht persönlich an der Pforte erwartete, sondern sie wie eine gewöhnliche Besucherin vom Majordomus ins Haus geführt wurde. Sie sah an dem imposanten Gebäude herauf und glaubte, hinter einem der Vorhänge eine flüchtige Bewegung zu sehen. Unwillkürlich schloss sie die Augen und sandte ein stummes Gebet gen Himmel. Erst als man sie in den Salon führte, wo der Duke sie erwartete, hatte sie es vermocht, ihre Gedanken wieder ganz auf die Gegenwart zu lenken.
Das nervöse Zittern, das sie in den letzten Stunden mit aller Macht unterdrückt hatte, kehrte zurück und erfasste ihren ganzen Körper. Der Duke ruhte in einem Lehnstuhl am prasselnden Feuer und erhob sich nur widerwillig, als widerstrebte es ihm, der Höflichkeit genüge zu tun. Erst nach einer geraumen Zeit, in der seine blauen Augen jedes Detail ihrer Erscheinung aufgenommen hatten, sprach er. »Ich werde Sie von Kopf bis Fuß neu einkleiden müssen, bevor Sie sich in meiner Gegenwart sehen lassen können, Miss Bradley«, bemerkte er und strich sich über seine maßgeschneiderten Hosen, bevor er sich erneut niederließ.
»Es tut mir leid, Euer Gnaden, aber ich dachte …«, fing Anna an, kam jedoch nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu sprechen. Es widerstrebte ihr, sich für ihre bescheidene Kleidung zu entschuldigen, aber sie sah ein, dass sie als zukünftige Duchess of Westlake wohl kaum in ihren schlichten Baumwollkleidern auftreten konnte.
»Ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie denken«, erwiderte der Mann, der sie heiraten wollte. Er deutete auf einen Stuhl mit gerader Lehne, der in starkem Kontrast zu dem bequemen Sessel stand, in dem er sich rekelte, und Anna ließ sich gehorsam ihm gegenüber nieder. Sie nutzte die eintretende Pause, um ihn unter gesenkten Lidern anzuschauen. Der Duke war zweifellos ein stattlicher Mann, aber was ihr vorher nicht aufgefallen war, sah Anna nun deutlicher. Die Falten in den Mundwinkeln sprachen von Verbitterung, die Tränensäcke unter den Augen von vergangenen Ausschweifungen. »Sie sollen Ihre Pflichten als meine Gemahlin wahrnehmen und mir einen Sohn schenken. Mehr erwarte ich von Ihnen nicht.«
Seine harschen Worte trafen sie bis ins Mark. Respekt, dachte sie verzweifelt. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass sein an Unhöflichkeit grenzendes Benehmen eine andere Ursache als ihre Anwesenheit hatte.»Das werde ich, Euer Gnaden«, zwang sie sich zu sagen. An dem Duke war nichts Gnädiges und niemals zuvor war ihr die Anrede so schwer über die Lippen gekommen wie heute. Etwas knackte, aber es war nur ein Scheit, das zu Asche zerfiel. Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und wartete darauf, dass er noch einmal das Wort an sie richtete.
»Muss ich Ihnen erklären, welche Art von Benehmen ich von Ihnen erwarte oder darf ich voraussetzen, dass Sie vertraut genug sind mit der Etikette?« Die Bewegung, mit der er sich über sein graues, immer noch dichtes Haar strich, lenkte Annas Aufmerksamkeit auf seine Hände.
Die fleischigen, von Leberflecken übersäten Finger verrieten sein Alter noch stärker als seine Gesichtszüge. Das Blitzen des protzigen Siegelrings rief das Bild eines anderen Mannes vor ihre Augen, der grob nach ihr griff. Nein. Mit einem unterdrückten Schauer vertrieb Anna die ungewollte Erinnerung.
Sie strafft die Schultern und senkte den Blick auf ihre Finger, um den aufflackernden Zorn in ihren Augen zu verbergen. »Sie können darauf zählen, dass ich Ihnen überaus dankbar bin für die Ehre, die Sie mir mit dieser Ehe erweisen. Das verspreche ich.« Nun sah sie ihn doch an und zuckte zusammen, als er verächtlich die Lippen kräuselte.
»Das Versprechen einer Frau ist ebenso leichtfertig gegeben wie gebrochen«, sagte er schneidend und lehnte sich vor. In seinen blauen Augen blitzte etwas auf, das ihr die Brust enger werden ließ. Er sah sie scharf an und das Gefühl eines unnachgiebigen Bandes um ihren Leib verstärkte sich. »Glauben Sie nicht, dass mir Ihre ausweichende Antwort entgangen ist«, sagte er in unterkühltem Tonfall. »Ich brauche keine Frau, die meine Gäste mit Ihrem Esprit und ihrer geistigen Gewandtheit beeindruckt«, warnte er sie. »Alles, was ich will, ist ein Erbe.«
Das zweimalige ausdrückliche Erwähnen dessen, was ihr bald bevorstand, verursachte in Anna eine kaum zu unterdrückende Übelkeit.
Als der Duke sah, dass sich ihre Finger umeinander krampften, lächelte er zufrieden. Offensichtlich genoss er nicht nur seine Macht über Anna, sondern weidete sich ebenso an ihrer Angst. »Einen Versuch ist es wert«, murmelte er mehr zu sich selbst als an sein Gegenüber gewandt. »Wir werden unsere Verbindung am nächsten Freitag bekannt geben, bei einem Dinner im Kreis meiner engsten Freunde. Ich bin dafür, die Verlobungszeit so kurz wie möglich zu halten, also schlage ich vor, dass wir uns in drei Wochen vermählen.« Es war kein Vorschlag, sondern eine Feststellung, dachte Anna, die ergeben nickte. Sie hatte keine Wahl, wenn sie jemals … »In der Zwischenzeit machen Sie sich mit meinem Haushalt vertraut. Sie werden nicht nur meinen Sohn, Lord Cavendish, sondern auch seine Schwester kennenlernen«, unterbrach er ihren Gedankengang.
Bei aller Härte, die der Mann vor ihr ausstrahlte, verwunderte es Anna dennoch, dass er von seiner Tochter nur als Lord Cavendishs Schwester sprach und sie nicht als sein eigen Fleisch und Blut bezeichnete. Sie errötete, als ihr Magen ein höchst undamenhaftes Knurren von sich gab, das der Duke mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. »Jenkins wird Sie auf Ihr Zimmer begleiten«, sagte er, woraufhin ein Lakai aus den Schatten trat und sich ihnen näherte. »Ich erwarte Sie morgen pünktlich um neun Uhr zum Frühstück.«
Anna erhob sich und sank in einen tiefen Knicks, bevor sie ihm eine gute Nacht wünschte und Jenkins hinauf in den Ostflügel von Schloss Westlake folgte. Sie zog ihren Schal enger um sich, als sie die kalte Eingangshalle durchquerten und die Treppe hinaufgingen. Geizig war der Duke nicht, zumindest nicht, was die Präsentation seines Besitzes anging. Überall flackerten Bienenwachskerzen und er musste ein Heer von Dienstboten unterhalten, um die makellose Sauberkeit zu erreichen, die hier herrschte. Auf der Treppe aus edelstem schwarzen Marmor lagen fein gewebte Läufer, die ihren Tritt dämpften und sich unter Annas abgeschabten Sohlen ausgesprochen angenehm anfühlten. Sie war so vertieft in die ungewohnte Pracht, dass sie nicht merkte, wie der Lakai vor ihr mitten auf der Treppe anhielt und einen Schritt zur Seite trat. Das Ergebnis war, dass sie, um einer Berührung auszuweichen, ins Stolpern kam und verzweifelt mit den Armen ruderte, um nicht die Treppe herunterzufallen.
Der Halt kam von unerwarteter Seite in Form einer gebräunten Männerhand, die sich viel zu fest um ihren Oberarm schloss. Ein leiser Laut des Schmerzes kam über ihre Lippen, als der Mann, dem die Hand gehörte, sie zu sich auf die Treppenstufe zog. Sie sah in ein gut geschnittenes Gesicht, in dem blaugrüne Augen unter dunklen Brauen sie herausfordernd musterten. Die Nase war kühn, sein Mund breit und mit sinnlichen Lippen. Anna erkannte den Anflug eines Bartschattens auf dem Kinn und im flackernden Licht der Kerzen wirkte der Mann wie ein Schmuggler, der sich nicht einen Deut um Recht und Gesetz kümmerte. Dazu passte, dass er eine im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Whiskyfahne vor sich hertrug, die ihr genau ins Gesicht wehte. »Wen haben wir denn da?«, fragte er. Die Frage kam zögernd heraus und leicht verschliffen. Dieser Mann war total betrunken. Ein Wunder, dass sie nicht gemeinsam die Treppe heruntergestürzt waren! »Ist das etwa das neue Liebchen des Dukes?«
Anna sah auf seine Hand, die immer noch ihren Oberarm umklammerte. Als der Mann jedoch nicht auf ihren Blick reagierte, schaute sie sich nach dem Diener um. Der war zurückgewichen bis an die Wand und verharrte mit abgewandtem Gesicht, als ob das Erscheinen des Betrunkenen nichts Ungewöhnliches wäre.
Es war nicht nur unverschämt, sie derart festzuhalten und passte zu seinem demütigenden Kommentar, nein – da schwang auch noch etwas anderes mit. Anna fühlte die ungezügelte Wut, die wie eine lodernde Flamme von ihm ausstrahlte. Aus der relativen Distanz sah sie, dass er ausnehmend gut gekleidet war, ähnlich wie der Duke, auch wenn er schockierenderweise nur Hemd und Breeches trug. Nahm man dazu noch das zerzauste Haar und den verhangenen Blick, dann wirkte er nicht nur wie ein Schmuggler, sondern wie einer, der soeben aus dem Bett gestiegen war.
Gerade als Anna den Mund öffnen und ihn bitten wollte, sie gehen zu lassen, geschah es. Hinter seiner Gestalt verschwamm die Umgebung, etwas Helles formte sich und wollte Gestalt annehmen. Bitte nicht jetzt, dachte sie und trat eine Stufe nach oben, um aus der Reichweite des Mannes zu gelangen.
Mit einem Ruck riss sich Anna von seinem Anblick los und ignorierte die sich formende Gestalt hinter ihm. Jenkins schritt mit unbewegtem Gesichtsausdruck weiter voran. Offensichtlich kannte er den Mann und war angewiesen, sein skandalöses Benehmen zu ignorieren, wie es ein guter Dienstbote tat – oder der vermeintliche Schmuggler bekleidete eine so hohe Stellung in diesem Haushalt, dass alles andere schlicht und einfach nicht in Frage kam. Während sie dem Diener folgte, rief sie sich noch einmal das Gesicht des Mannes vor Augen und verglich es in Gedanken mit dem ihres zukünftigen Ehemannes. Konnte dies Lord Cavendish sein, der Sohn des Dukes? Eine gewisse Ähnlichkeit war vorhanden, vor allem im Schnitt des Gesichts. Doch wo der ältere Mann kalt und distanziert blickte, hatte sein Sohn sie mit reiner Verachtung angesehen.
Als Jenkins diesmal stehen blieb, war sie darauf gefasst und hielt ebenfalls inne. Der junge Mann trat vor und öffnete die Tür zu einem Zimmer, dessen Pracht Anna sofort wahrnahm – und augenblicklich vernachlässigte um des prasselnden Feuers willen, das den Raum in eine willkommene Wärme tauchte. Ihr Gepäck war bereits hinaufgebracht worden und eine junge Frau mit mühsam gebändigtem rotem Haar machte sich an ihrer Kleidung zu schaffen. Im ersten Augenblick glaubte Anna, dass sie die bescheidenen Stoffe in Augenschein nahm, aber dann wurde ihr bewusst, dass die Frau wahrscheinlich geschickt worden war, um ihr beim Auspacken zu helfen. Sie merkte, dass Jenkins immer noch höflich darauf wartete, entlassen zu werden und besann sich auf die Gegenwart. »Danke, Jenkins«, sagte sie also und sah ihm nach, wie er die Tür hinter sich schloss.
»Guten Abend, Miss«, wandte sich die junge Frau von ihrer Arbeit ab. Sie knickste einmal kurz und sagte dann: »Ich bin Rosalie, Eure Zofe.«
»Guten Abend, Rosalie«, erwiderte Anna, die nicht wusste, ob sie sich freuen oder gestört fühlen sollte, durch die Gegenwart einer fremden Person. Sie war das alles nicht mehr gewohnt. Nicht den Luxus eines wärmenden Feuers und nicht das Umsorgtwerden durch eine andere Person. Besser, sie gewöhnte sich gleich daran, denn der Duke würde wohl kaum dulden, dass seine Frau sich allein anzog, frisierte, sich ein Bad einließ und, Gott behüte, etwas Brot und Käse aus dem Vorratsschrank nahm. Der Gedanke an Brot und Käse ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen, obgleich sie wusste, dass sie keinen Bissen herunter bringen würde. Als habe die junge Bedienstete ihre Gedanken gelesen, fragte sie scheu, ob Anna etwas zu sich zu nehmen wünschte. Anna suchte in dem ihr fragend zugewandten Gesicht nach Arglist, fand aber nichts. Trotzdem wog sie ihre Worte sorgfältig ab, bevor sie sprach. Zu viel kam darauf an, wie sie sich nun verhielt. Ließ sie sich von Rosalie zu sehr bevormunden, verlöre sie schnell nicht nur deren Respekt, sondern auch den der anderen Bediensteten. »Ich bitte darum«, erwiderte sie deshalb kurz angebunden. »Bitte sorge dafür, dass die Köchin mir etwas Leichtes zubereitet wie eine Brühe. Und Tee«, fügte sie hinzu und merkte, dass sie nichts sehnlicher wünschte als sich mit einer Tasse Tee ans Feuer setzen und die Augen schließen zu können.
»Sofort, Miss«, erwiderte Rosalie und knickste schon wieder, bevor sie sich flugs auf den Weg in die Küche machte. Es dauerte nicht lange und sie kam mit einem vollbeladenen Tablett zurück und stellte es auf einem der zierlichen Tische ab, die das Zimmer eindeutig als »Damenzimmer« auswiesen. Anna konnte sich gerade noch rechtzeitig daran erinnern, dass sie sich besser nicht auf den dampfenden Tee und die appetitliche Brühe stürzen, sondern sich das Essen von Rosalie servieren lassen sollte. Als sie fertig war mit ihrem bescheidenen Mahl und Rosalie ihr geholfen hatte, das schlichte Nachtgewand anzulegen, richtete die junge Frau das Wort an sie. »Ich habe in Eurem Gepäck einen Brief gefunden. Er liegt dort auf Eurem Nachttisch.« Ängstlich schaute die Zofe sie an und Anna beeilte sich ihr zu versichern, dass dies kein schlimmes Missgeschick war. Zwar hätte sie ihr den Brief sofort überreichen sollen, aber Anna war viel zu erschöpft, um die Kraft für eine ernsthafte Ermahnung aufzubringen. Sie warf einen Blick auf den Umschlag und erkannte Tante Victorias steil aufragende, eckige Handschrift. Sie seufzte und beschloss, die Lektüre auf den morgigen Tag zu verschieben. Wahrscheinlich enthielt die Mitteilung nichts als allerletzte Ermahnungen, wie sie sich in Gegenwart des Dukes zu verhalten habe, damit seine Gnaden es sich nicht noch einmal anders überlegte und sie zurückschickte.
Erst, als sich Rosalie endlich in ihre kleine Kammer neben ihrem Zimmer zurückgezogen hatte, fiel ihr ein, dass ein Brief, den man in ihrem Gepäck fand, ebenso Anlass für ein schwerwiegendes Missverständnis geben konnte.
Rosalie hielt ihn vielleicht für das feurige Liebesbekenntnis eines anderen Mannes, dem Anna sich verbunden fühlte! Sofort begannen ihre Hände wieder zu zittern. Nicht eine Lektion im Pensionat hatte sie darauf vorbereitet, wie sie die zahlreichen Hindernisse bewältigen sollte, die sich vor ihr auftürmten. Tanzen, singen, malen, die französische Sprache und vor allem die Art, wie man seine Ehrerbietung in der Tiefe seiner Verneigung ausdrückte, hatte man sie gelehrt. In die Decke gekuschelt, fragte sich Anna, ob dies jemals ausreichen würde, aus ihr eine würdige Duchess zu formen.
Bevor Rosalie gegangen war, hatte sie das Feuer noch einmal angefacht und unter der dicken Bettdecke war Anna beinahe schon zu warm. Außerdem wollten ihre Gedanken trotz der anstrengenden Reise und des aufregenden Tagesausklangs einfach nicht zur Ruhe kommen. Also hüpfte sie höchst undamenhaft aus dem Bett, schlang sich das Tuch um die Schultern und erkundete im spärlichen Kerzenlicht ihr neues Zimmer.
Im Gegensatz zu der Kammer, die Tante Victoria ihr zugebilligt hatte, erschien ihr der Raum riesig und geradezu dekadent luxuriös. Um das massive Bett hingen dicke Vorhänge, die im Winter die kalte Luft fernhielten.
Auch hier verwöhnten weiche Teppiche ihre Füße und jeder einzelne Gegenstand, vom Tisch bis zur Kommode und den Stühlen, war von erlesenster Qualität.
Der Vergleich mit dem Haus ihres Onkels, der zwar ein bescheidenes Auskommen hatte, aber nicht wohlhabend war, drängte sich förmlich auf. Sie wusste, sie sollte dankbar sein, dass sich nach dem Tod ihrer Eltern überhaupt jemand um sie gekümmert hatte, aber es fiel Anna mehr als schwer, Dankbarkeit und Tante Victoria in einem Satz zusammenzubringen.
Viel zu sehr hatte ihre einzige leibliche Verwandte sie spüren lassen, wie sehr sie Annas Benehmen missbilligte. Und als die Ehe mit dem Duke endlich arrangiert war, hatte sie sich noch weniger Mühe als sonst gegeben, ihre Verachtung für die in mehr als einer Hinsicht befleckte Tochter ihrer Schwester zu verbergen.
Noch vor fünf Stunden hatte Anna gedacht, dass alles besser wäre, als weiterhin in dem Hause zu leben, in dem ihre Tante argwöhnisch jeden Schritt, jedes Wort von ihr auf eine verborgene Bedeutung prüfte.
Jetzt, nachdem sie den Mann, den sie heiraten sollte, zum ersten Mal an seinem angestammten Platz als Grundherr gesehen hatte, war sie sich ganz und gar nicht mehr sicher.
* * *
Lady Elizabeth war sich nicht zu schade, die Vorhänge in ihrem Zimmer einen Spalt zu öffnen, als sie endlich das Geräusch der sich nähernden Kutsche hörte. Seit ihr Vater ihnen eröffnet hatte, dass er gedachte, eine Miss Anna Bradley zu ehelichen, hegte sie die schlimmsten Befürchtungen. Sie ahnte, dass die zweite Ehe ihres Vaters weniger dazu gedacht war, eine repräsentable Gattin an seine Seite zu wissen, als ihren geliebten Bruder endgültig aus dem Hause zu vertreiben. Wann immer sie Alexander sah, war er entweder außer sich vor Zorn oder unpässlich, wie man so schön sagte.
Bei einer Gelegenheit, als der Duke seinen Geschäften in London nachging, hatte sie es gewagt, ihn nach dem Grund für seinen Ärger zu fragen. Elizabeth hatte den Augenblick sorgsam abgepasst und ihn angesprochen, als er von einem seiner ungezügelten Ausritte über das Land wiederkam. In der Nähe seiner geliebten Tiere ähnelte Alexander dem Bruder, an den sie sich von früher erinnerte, als ihre Mutter noch gelebt hatte. Er hatte nie den anderen Jungen in seinem Alter nachgeeifert, die sich an Grausamkeiten gegenüber ihren Schwestern zu übertrumpfen versuchten, sondern ihr geduldig alle Fragen beantwortet, die sie bewegten. Damals waren es Dinge gewesen wie »warum geben Frösche dieses eigenartige Geräusch von sich« oder »warum wird Isabelle immer dicker« gewesen, die ihr kindliches Gemüt bewegten und an die sie sich heute mit einer Scham erinnerte, die immer noch in ihr brannte.
Doch als sie Alexander die Hand auf den Arm legte und ihn fragte, warum er nicht einfach fortginge, wenn er die neue Frau seines Vaters nicht kennenlernen wollte, hatte er sich abgewandt. Sein Gesicht hatte sich noch tiefer verschlossen als sonst und mit einer ungeduldigen Handbewegung wurde sie zurück ins Haus geschickt. »Die Ställe sind kein Ort für eine Lady«, hatte er in einem Tonfall gesagt, der sie schmerzlich an den ihres Vaters erinnerte. Ihr hatte eine beißende Erwiderung auf der Zunge gelegen, aber sie hatte die Worte hinuntergeschluckt, als John, der neue Stallbursche, hinter ihm auftauchte.
»Soll ich Euer Pferd für Euch abreiben, Mylord?«, hatte John gefragt und dabei nicht ihren Bruder, sondern sie angesehen auf eine Weise, die sie seltsam erzürnte und die sie gleichzeitig vor heimlicher Wonne erschauern ließ. Es war das erste Mal gewesen, dass ein Mann sie auf diese Weise angesehen hatte. Es hatte ihr nicht gefallen, aber da Alexander es nicht zu bemerken schien, hatte sie geschwiegen.
Und sich am nächsten Tag wie auf geheimnisvolle Weise angezogen auf dem Weg zu den Ställen wiedergefunden.
Schnell wandte sie ihre Gedanken wichtigeren Dingen zu und beobachtete, wie Miss Bradley aus der Kutsche stieg. Ein leiser Stich durchfuhr sie, als die Frau das Gesicht hob und ihr direkt in die Augen zu blicken schien. Schnell trat Elizabeth mit laut pochendem Herzen vom Fenster zurück.
Miss Bradley war nicht nur jung, sondern ausnehmend schön, wie Elizabeth feststellen musste. Ihr Haar war zwar unter einer züchtigen Haube verborgen, aber ihr makelloser, heller Teint verriet, dass sie keine grobschlächtige Dunkelhaarige war, wie Elizabeth es sich insgeheim gewünscht hatte. Ihre kleine Gestalt war unter einem braunen Reisemantel verborgen, aber ihr Gesicht schien ebenso zart wie wohlgeformt zu sein. Verdrossen sah Elizabeth an ihrer eigenen ungelenken Gestalt herab. Wäre die neue Frau ihres Vaters wenigstens klein und gerundet gewesen, höbe sich ihre eigene Größe nicht unvorteilhaft davon ab.
Nun hasste sie die neue Frau nicht nur wegen der unausgesprochenen Sorgen, die diese ihrem geliebten Bruder bereitete, sondern auch um ihrer selbst willen. Sie ahnte nicht im Mindesten, was ihr Bruder vorhatte, um die Braut des Dukes zu vertreiben, aber sie selbst würde nicht untätig verharren. Sie war Lady Elizabeth Westlake und niemand würde Alexander und sie von ihrem angestammten Platz vertreiben.
…
Ende der Leseprobe.
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